Disruptives Szenario 2: Gesundheit – Die Verbesserung der menschlichen Natur
Der meistgenannte Wunsch für die Zukunft ist Gesundheit: Viele Menschen geben, wenn sie über die Wünsche für die Zukunft gefragt werden, die eigene Gesundheit und die Gesundheit ihrer Angehörigen an. Keine Frage: Gesundheit ist persönlich, politisch und auch ökonomisch ein Brennpunkt. Ilona Kickbusch, die am Graduate Institute for International und Development Studies das Programm „Globale Gesundheit“ leitet, spricht von drei Gesundheitsrevolutionen – wobei wir heute in der dritten stecken:
- Die erste Gesundheitsrevolution vor 150 Jahren sicherte durch öffentliche Gesundheitsmassnahmen das Überleben und mündet in der signifikant gestiegenen Lebenserwartung.
- Die zweite Gesundheitsrevolution sieht Frau Kickbusch in der Schaffung solidarisch organisierter Finanzierungssystemen für das Gesundheitswesen, durch welche die Errungenschaften der Medizin allen Menschen (in den entwickelten Ländern) zugänglich gemacht wurden.
- Die dritte Revolution sei nun im Gang: Gesundheit sei zu einem zentralen persönlichen, politischen und ökonomischen Faktor geworden, der unseren sozialen Alltag auf vielfältige und widersprüchliche Weise durchdringe (Bulletin SAGW 3/2013, p. 53f).
Weiter schreibt sie: „Der Grund für die neue Bedeutung von Gesundheit liegt in der Dynamik, die durch die Interaktion von Demographie, Ökonomie, Globalisierung, Kommerzialisierung, Individualisierung und einer immer leistungsfähigeren Medizin ausgelöst wird.“ (ebd.) Die Rede ist von der „Gesundheitsgesellschaft“, für die es noch an „radikalen Zukunftsentwürfen“ mangle.
Einen solchen radikalen Zukunftsentwurf will ich gleich wagen, nicht ohne aber vorgängig darauf zu verweisen, dass in verschiedenen Weltgegenden die drei Kickbusch’en Revolutionen Phasen verschoben, beschleunigt und auch die Reihenfolge überstürzend vonstatten gehen: Die erste Revolution hat mit wenigen Ausnahmen praktisch überall stattgefunden, mit dem erwähnten Ergebnis einer signifikanten Steigerung der Lebenserwartung fast überall auf dieser Welt (siehe Szenario Weltbevölkerung). Die solidarischen Finanzierungssysteme (2. Revolution) hingegen sind noch nicht überall etabliert und doch betrifft viele dieser Länder bereits die 3. Revolution (z.B. Übergewicht als Epidemie, Internet als Doktor).
Cyborg und Transhumanismus
2013 hat der Sender Chanel 4 eine Dokumentation mit dem Titel „How to build a bionic man“ ausgestrahlt. Der Hauptdarsteller ist ein künstlicher Mann, der aus allen heute verfügbaren künstlichen Organen und Gliedmassen besteht: Das reicht von einem Implantat, welches Signale einer Kamera dem Gehirn weiterreicht und so Blinde zumindest umrisshaft wieder sehen lässt, über eine durch Muskelbewegungen digital steuerbare Arm- und Handprothese bis zu einem Kreislauf aus künstlichem Blut, das in der Lage ist, Sauerstoff aufzunehmen und wieder abzugeben. Auch wenn der Magen oder das Gehirn noch längst nicht künstlich hergestellt werden können, so ist doch abzusehen, dass in nicht mehr ferner Zukunft künstliche Gliedmassen oder Organe zur Verfügung stehen werden, die besser als das biologische Vorbild sind.
Ganz diesem Fortschrittsoptimismus verschrieben haben sich Leute, die sich Transhumanisten nennen: Sie wollen der Evolution auf die Sprünge helfen und den Menschen, wie er von Natur aus ausgestattet ist, verbessern.
Technologie war immer schon dazu da, die von der Natur gegebenen menschlichen Beschränkung zu durchbrechen: Die Erfindung des Rades ermöglichte es, schwerere Lasten über weitere Strecken zu transportieren, als dies alleine mit Muskelkraft möglich gewesen wäre. Was im Verhältnis von Mensch und Technologie zumindest im Ausmass neu ist, ist die Verschiebung der Schnittstelle in den menschlichen Körper hinein. Diese Entwicklung lässt sich gut an den Technologien der Sehhilfen aufzeigen: Eine optische Brille ist ein Stück Technik, um Sehschwäche auszugleichen – oder beim Fernglas – die natürliche Beschränkung zu überwinden. Eine Brille sitzt zwar auf der Nase, aber hält noch einen gewissen Abstand zum Auge. Die Kontaktlinse wird direkt aufs Auge montiert, rückt also näher an den Körper heran. Gewisse Formen der Kurzsichtigkeit lassen sich aber auch mit Laser-Operationen beheben. Damit wird die menschliche Natur bereits manipuliert. Der implantierte Chip schliesslich lässt Technik und Biologie verschmelzen: Ins Gehirn implantiert, übersetzt der Chip Informationen einer digitalen Kamera in Impulse, welche das Gehirn verarbeiten kann.
Wenn Mensch und Informationstechnologie verschmelzen, spricht man auch vom Cyborg – ein zusammengesetztes Kunstwort aus Kybernetik und Organismus (siehe hier Wikipedia). Die Visionen und Spekulationen, wohin das führen wird, schiessen zuweilen ins Kraut. Wenn Kevin Warwick, ein Professor für Cybernetics an der Universität von Reeding, prophezeit, dass wir in absehbarer Zeit unsere Erinnerungen auf Chips rauf- und runterladen können, verkennt er das Wesen von Erinnerung und Gedächtnis. Aber wie die Beispiele von Implantaten zum Hören und Sehen zeigen, dürfen Blinde und Taube darauf hoffen, mittels implantierter Technik gewisse Sinnesleistungen zu erlangen. Denkbar ist zudem ein digitaler Bypass zur Überbrückung unterbrochener Nervenzellen bei Lähmungen. Vielversprechend sind zudem Prothesen, die mit Gedanken gesteuert werden können. Das Zusammenspiel von Biologie und Technologie kann das Leben von Prothesen-Träger deutlich erleichtern. iLimb-Pulse5 zum Beispiel ist eine Handprothese, die durch Muskelkontraktionen gesteuert werden kann. Bis zu fünf Standardgriffe der künstlichen Hand können gleichzeitig über eine Bluetooth-Schnittstelle programmiert werden. Sie werden durch einmalige, zweimalige, dreimalige oder länger andauernde Muskelkontraktion initiiert.
In Zukunft wird es wohl möglich sein, Prothesen durch Gedanken zu steuern, in dem Signale des Gehirns aufgenommen und in Aktionen der künstlichen Gliedmassen umgesetzt werden. Im Januar 2014 haben Forscher der EPFL Lausanne und des BioRobotics Institute in Pisa eine Handprothese getestet, die berührungssensibel ist (siehe hier). Im Laufe des drei Wochen dauernden Versuchs konnte der Däne Dennis Aabo Sorenson durch die implantierten Elektroden fühlen, welche Form und welche Festigkeit ein Gegenstand aufweist, den seine Prothesenhand ergriffen hat. Die Verknüpfung von Sensoren mit dem menschlichen Nervensystem schreitet rasant voran.
Eine andere Methode zur Steuerung von Prothesen könnte aus einem Versuch entstehen, den 2011 das Team um Raùl Rojas der Freien Universität Berlin durchgeführt hat: Dabei ging es darum, ein Auto durch Gedanken zu steuern. Das Experiment Brain Driver setzt sich aus einer Sensormütze und einem intelligenten Fahrzeug zusammen, das dank Radar, Sensoren und GPS autonom fahren kann (wie der Google Car), der „Fahrer“ aber mit Gedanken dem Auto an einer Kreuzung die Richtung vorgeben kann. Dazu trägt der „Fahrer“ eine mit 16 Sensoren ausgestattet Mütze, welche die elektromagnetischen Wellen des Gehirns misst. Nach einem Training ist der „Fahrer“ in der Lage, das Fahrzeug mit Gedanken zu steuern. Wenn es aber schon vielversprechende Ansätze gibt, Autos oder Maschinen mit Gedanken zu steuern, scheint mir der Weg nicht mehr weit, dass auch künstliche Gliedmassen gedanklich gesteuert werden können.
Noch sind künstliche Organe und Gliedmassen nicht besser als die biologischen Originale. Je besser sie werden, desto früher und häufiger wird sich allerdings die Frage stellen, ob nicht die technische Nachbildung eingesetzt werden soll. Augen, die besser sehen, Herzen, die besser pumpen, Hände, die besser greifen können als die biologischen Originale. Es ist kaum wahrscheinlich, dass sich ein gesunder Mensch die Hand amputieren lässt, weil die Handprothese besser ist als die Hand. Denkbar aber ist, dass aus einer Behinderung in Zukunft ein Vorteil erwächst – wie Laufprothesen zunehmend den sportlichen Beinen der Sprinter im Spitzensport überlegen sind.
Pharmakologische Enhancement
Was „blutig“, also mit einer vorgängigen Amputation kaum um sich greifen wird, ist pharmakologisch bereits Realität. Die Zahl der gesunden Menschen, die Medikamente einnehmen, um die Stimmung zu manipulieren, die Müdigkeit zu bekämpfen oder die Konzentration zu erhöhen, nimmt stetig zu. In der Fachwelt ist von Human Enhancement die Rede: Die Verbesserung des Menschen. Für die Schweiz hat eine Studie im Auftrag der Suva kürzlich das Ausmass aufgezeigt: 4 Prozent der Erwerbstätigen nehmen ohne gesundheitlichen Anlass verschreibungspflichtige Medikamente oder Drogen, um am Arbeitsplatz leistungsfähiger zu sein. Bei den jungen Menschen ist der Anteil gar doppelt so hoch. Die Medikalisierung unserer Gesellschaft schreitet voran. Besonders die nachkommenden Generationen scheinen sehr schnell geneigt zu sein, mittels Medikamenten ihre mentale und psychische Leistungsfähigkeit zu steigern. Vor allem die Angst vor Nebenwirkungen halten noch viele davon ab: Wenn keine schwerwiegenden Nebenwirkungen drohen würden, würden 22 Prozent der sich in Ausbildung stehenden Befragten der Suva-Studie verschreibungspflichtige Medikamente zu sich nehmen, um leistungsfähiger zu sein, und jeder sechste würde illegale Drogen zu diesem Zweck konsumieren.
Quantified Self – die lückenlose Gesundheitsüberwachung
Die meisten gehen wohl nur dann zum Arzt, wenn sie sich krank fühlen. Unter Umständen misst er bei dieser Gelegenheit den Blutdruck, den Puls, die Temperatur, wenn angezeigt gibt es ein EKG oder ein Test der Lungenfunktion. Blutproben werden genommen um sie auf Krankheitsindikatoren zu untersuchen. Diese Daten gehen in die Krankenakte und werden bei einem nächsten Besuch allenfalls zum Vergleich herangezogen. Diese Stichproben werden also zumeist erhoben, wenn irgendetwas nicht ganz stimmt. In Zukunft aber werden wir lückenlose Daten über unseren Gesundheitszustand haben.
Kleine und günstige Peripheriegeräte, z.B. ein Armband oder ein Vitaldaten-Shirt, ein Pflaster, ein Mini-Chip aber auch die Hauswaage oder die Toilette sammeln kontinuierlich unsere Gesundheitsdaten – teils (wie der Chip) auch subkutan, also Werte, die nur im Blut gemessen werden können. Über das Smartphone werden diese Daten aufbereitet. Algorithmen helfen zu verstehen, was die gemessenen Daten bedeuten und geben Tipps und Hinweise, was aufgrund der Daten und des Verlaufs zu tun angezeigt ist. Diese Gadgets zeichnen zudem die körperlichen Aktivitäten auf, die Schritte, die einer macht, Sport, aber auch die Dauer und die Qualität des Schlafes. Wir werden uns in Zukunft dauernd vermessen und wissen damit weit mehr als heute über unseren Gesundheitsverlauf, als mit den Stichproben aus dem gelegentlichen Arztbesuchen, die nur den momentanen Gesundheitszustand anzeigen.
Die Sensoren, welche solche Daten erheben, werden immer billiger und besser. Zwar sind sie nicht gänzlich vergleichbar mit teuren medizinischen Apparaturen in Arztpraxen und Spitälern. Aber ihre Validität und Reliabilität sind erstaunlich gut: Sie messen immer präzisier und kommen ihren grossen Geschwistern schon recht nahe, und sie messen auch immer mehr das, was sie vorgeben zu messen. Ihr unschlagbarer Vorteil ist aber die Kontinuität der Messung über viele Stunden, Tage, Wochen – oder eben dauerhaft. Der behandelnde Arzt kann sich dadurch ein viel besseres Bild über den Gesundheitszustand des Patienten machen. Krankenkassen und Unfallversicherer können dadurch arbeitsplatzbedingte Beschwerden in Relation zu den konkreten Arbeitsumfeldern erkennen, zum Beispiel Asthma-Anfälle in bestimmten Räumen. Aber auch der Einzelne kann seine Gesundheit verfolgen – und so umfangreiche Daten einsehen, wie gut die Fitness-Offensive kombiniert mit der Ernährungsumstellung sich auf vitale Funktionen auswirkt. Auch Müdigkeit in Abhängigkeit ungenügender Schlafdauer oder Schlafqualität werden ohne grossen Aufwand für jeden selbst verfolgbar. Die ETH Lausanne (EPFL) hat sogar einen Bluetooth fähigen Chip kreiert, der unter die Haut implantiert wird und so u.a. Stunden vor dem eigentlichen Herzinfarkt Alarm schlagen kann. Der Chip kann ganz einfach mit einer Nadel implantiert werden und hat eine Lebensdauer von mehreren Monaten.
Von der Möglichkeit, sich total zu vermessen und zu überwachen, sind schon heute gewisse Menschen absolut fasziniert, so sehr, dass sie sich in Gruppen vernetzen. Die Quantified Self Gruppen entstehen in immer mehr Ländern und Städten (zum Beispiel in Zürich). Wie so vieles, wurde die erste Gruppe bereits 2008 in der Umgebung von Los Angeles gegründet. Die Mitglieder tauschen Erfahrungen aus und informieren sich über neue Gadgets und Apps. Sie lieben Apps, die ihnen raten, heute früh zu Bett zu gehen, weil sie sonst eine Erkältung bekommen könnten, oder Apps, die ihnen vorschlagen, langsamer zu atmen. Es ist aber auch möglich, Drittpersonen mit den eigenen Gesundheitsdaten zu versorgen: Den Hausarzt, was naheliegend ist, aber auch der Partner oder Verwandte. So könnte die Ehefrau mit einer SMS informiert werden, dass der Ehemann im Büro grade gestresst ist. Und sie kann ihn mit einer SMS zu beruhigen versuchen. Auch ein Alarmsystem kann damit verbunden sein – die Tochter erhält einen Alarm, wenn die Herzfrequenz ihres Vaters zu hoch ist und er möglicherweise eine Herzrhythmus-Störung erleidet.
Genomik – Das eigene Genom für 1000 CHF
Im Jahr 2000 verkündeten der US-Präsident Bill Clinton und der englische Premierminister Tony Blair gemeinsam: Es ist geschafft. Nach 15 Jahren Forschung wurde das erste menschliche Genom entziffert. Für Kosten von einigen Milliarden Dollar. Doch eigentlich war es erst sechs Jahre später so weit. Das genetische Material eines Menschen besteht aus über drei Milliarden Bausteinen. Was die 25’000 Gene wirklich tun, wissen wir in den meisten Fällen noch immer nicht. Das Genom ist also entziffert, aber noch längst nicht entschlüsselt. Trotzdem ist es ein Meilenstein, der die Medizin radikal verändern wird. Zum einen sind in den letzten 14 Jahren die Kosten zur Entzifferung drastisch gesunken: 2007 wurde das Erbgut des Entdeckers der DNA, James Watson, entziffert, was noch 1 bis 2 Mio. Dollar kostet. Im Jahr darauf wurden gleich drei Genome analysiert: das komplette Erbgut eines anonymen Afrikaners vom Volk der Yoruba aus Nigeria, das eines Han-Chinesen sowie das einer Frau, die an Blutkrebs erkrankt war. Die Kosten: Noch 100’000 Dollar. 2012 brachte die US-Biotechnologiefirma Life Technologies ein neues Verfahren auf den Markt. Nun kostete eine Sequenzierung des menschlichen Genoms noch 1000 Dollar und ist in einem Tag erledigt. Damit eröffneten sich ganz neue Möglichkeiten. Bald schon offerierten Firmen jedermann eine Analyse des eigenen Genoms an. Man muss einzig eine Speichelprobe einschicken und erhält kurz darauf das Passwort zugeschickt um auf die eigenen Daten zuzugreifen. Auf der Plattform 23andme haben rund 450’000 Personen ihr Genom sequentieren lassen. Das ist ein riesiger Fundes an Daten für die Wissenschaft: 76 Prozent haben nämlich eingewilligt, dass ihre Genom-Daten für die wissenschaftliche Forschung genutzt werden. (Im November 2013 hat allerdings die US-Behörden der Firma untersagt, gesundheitsbezogene Interpretationen zu liefern. Mehr hier)
Und bald für 100 CHF?
Bald schon dürfte die vollständige Sequenzierung eines Genoms noch viel günstiger zu haben sein. Ein Technologie-Unternehmen in San Diego namens Illumina hat sich auf die vollständig automatisierte Sequenzierung spezialisiert. Die Firma hat angekündigt, dass sie bald die Kosten für eine vollständige Entschlüsselung auf unter 100 US$ drücken wird.
Nun beginnt eine neue Ära: Wissenschaftler können mit wachsender Zahl von Daten mehr und mehr herausfinden, mit welchen Genen welche Krankheitsrisiken verbunden sind. Mit anderen Worten: Das Entschlüsseln kann beginnen. Ganz selten ist eine Krankheit klar einem einzigen Gendefekt zuzuschreiben. Zudem bedeuten Abweichungen unter Menschen an und für sich noch nichts, können sich doch zwei Menschen in bis zu drei Millionen Mutationen voneinander unterscheiden. Erst riesige Datensätze und enorme Rechenleistungen, erst die neuen Möglichkeiten Künstlicher Intelligenz werden uns weiter führen. Aber die Aussichten sind vielversprechend. Dazu gehört die personalisierte Medizin: Es ist bekannt, dass ein Medikament nicht bei allen gleich wirkt. Offenbar führen genetische Unterschiede dazu, dass bei einem ein Medikament anspricht und beim anderen die unerwünschten Nebenwirkungen überwiegen. Es wird wohl kaum völlig individualisierte Medikamente geben, dafür sind die Entwicklungskosten zu hoch. Aber schon bald werden wir verschiedene Gen-Cluster haben, die helfen, für eine Gruppe von genetisch ähnlich ausgestatten Menschen das jeweilige Medikament bereit zu stellen. Zudem ist zu erwarten, dass die Krebsforschung enorm davon profitieren wird, was angesichts der enormen und wachsenden Bedeutung von Krebserkrankungen eine disruptive Entwicklung auslösen wird. Zudem werden Dispositionen zu Krankheiten erkannt und können mit entsprechenden präventiven Massnahmen am Ausbruch gehindert werden.
Allerdings stellen sich auch wichtige neue Herausforderungen: Was, wenn Dispositionen zu Krankheiten gefunden werden, gegen die es keine Therapie und Vorsorge gibt? Was nützt es in diesem Fall einem Menschen, über seine Neigung bescheid zu wissen? Wird aus einem unbeschwerten Leben deswegen eines in ständiger Angst vor einer Krankheit, die vielleicht einmal ausbrechen wird? Wie werden wir es regeln können, dass Genanalysen nicht zu Diskriminierung führt – auf dem Arbeitsmarkt, beim Abschluss von Versicherungen, bei Altersvorsorge-Programmen (z.B. weil einer die Neigung hat, sehr alt zu werden)? Wie gehen wir mit der möglichen Auslese durch Abtreibungen um, wenn aufgrund der gefundenen Merkmale oder Prädispositionen die Eltern das Kind nicht haben wollen? Oder, wenn die pränatale Genmanipulation fortschreitet, das Kind mit den gewünschten Eigenschaften „gezüchtet“ werden soll? Wir haben zweifelsohne eine neue Möglichkeit in der Hand, die ebenso neue Probleme schafft. Wie der Schweizer Dramatiker Friedrich Dürrenmatt in seinem Stück „Die Physiker“ aufzeigt, kann einmal entdecktes und erworbenes Wissen nicht mehr rückgängig gemacht werden. Wir müssen uns diesen neuen Herausforderungen stellen, um den Nutzen zu fördern und die Schäden zu minimieren.
Gesundsein 2035
Noch weitere medizinische und pharmazeutische Forschungsbereiche werden die Medizin und das Gesundheitswesen in der mittelfristigen Zukunft umkrempeln, von der Zellbiologie bis zur Gehirnforschung. Alles zusammengenommen ergibt sich ein Szenario der nächsten Gesundheitsrevolution:
Niemand wird einfach mehr gesund sein: Unser Verständnis von Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit wird ersetzt von einer selbstbeobachtenden, Risiken abwägenden und graduell in der Tendenz zu verbessernden Entwicklung der körperlichen, psychischen und geistigen Leistungsbereitschaft. Prävention wird massgeschneidert. Jeder hat sein persönliches Programm, das auf die individuellen Veranlagungen abgestimmt ist und mit dem aktuellen Lebensstil verrechnet wird. In sehr frühen Stadien einer Fehlentwicklung lässt sich wirksam eingreifen, um Krankheiten möglichst gar nicht entstehen zu lassen.
Wichtigste Partner sind nicht mehr der Arzt und die Krankenkasse, sondern sind jene ICT-Firmen, welche die wichtigsten Daten meiner gesundheitlichen Entwicklung haben und dank ihren neuen Gesundheitsabteilungen Handlungsempfehlungen geben. Sie heissen dann vielleicht Google-Health, oder iMed oder Yahoo-Doc.
Implantate werden versagende Organe oder fehlende Gliedmassen ersetzen. Wir werden mit vielen technischen Geräten verschmolzen sein.
Die Lebenserwartung dürfte deutlich ansteigen, zugleich wird die Zeit der Pflegebedürftigkeit drastisch zurück gehen. Wir werden also gesünder alt. Unsterblich werden wir in den nächsten Jahrzehnten nicht – irgendeinmal werden alle Interventionen versagen. Aber wir werden vielleicht uns einer Kunst des Sterbens wieder zuwenden, die in der abendländischen Kultur einmal verbreitet war, aber in der Zwischenzeit verkümmert ist. Wenn ich tendenziell (fast) ewig lebe, wird die Frage wichtig, welche Qualitäten mir ein Leben lebenswert erscheinen lässt. Wenn ein gewisses Niveau unterschritten ist, möchte ich vielleicht nicht länger leben.